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Thomas Bernhard: Die Macht der Gewohnheit

Thomas Bernhard: Stücke 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch 1988 (© beim Verlag)

Das Drama zeigt einen Abend im Wohnwagen des Zirkusdirektors Caribaldi und dessen krampfhaften Versuch, die Probe von Schuberts Forellenquintett auf die Beine zu stellen. Die Besetzung des Quintetts besteht, abgesehen von ihm selbst, aus lauter Unfreiwilligen – seiner Enkelin, dem Jongleur, dem Dompteur und dem Spassmacher. Auf der ständigen Suche nach Perfektion schikaniert der Zirkusdirektor seine Artisten, die sowohl im Zirkus als auch in der Musik hervorragende Leistungen zu erbringen haben. In despotischer Manier instrumentalisiert er seine Mitarbeiter und verfolgt dabei nur ein Ziel: Vollkommenheit / Vollkommenheit / verstehen Sie / nichts sonst (S. 273). Sie alle, auch Caribaldi, sind einer Ausweglosigkeit verfallen, da die Konstellationen und Machtstrukturen festgeschrieben sind. Sie sehnen sich zwar alle nach einer Veränderung, schaffen es aber nicht, aus den gegenseitigen Abhängigkeiten auszubrechen. Obwohl der Zirkus in sehr schlechtem Zustand ist, verlässt ihn keiner. Was ihnen bleibt, ist die Sehnsucht nach Veränderung: So träumt beispielsweise der Jongleur stets vom Zirkus Sarrasani in Frankreich.

Man erwartet mich
in Bordeaux
Sarrasani
ein Triumph
höchste Klasse
Herr Caribaldi
und von Bordeaux
bis hinunter nach Portugal
Lissabon
Oporto
wissen Sie (259)

Er sehnt sich nach einem anderen Zirkus, in dem er als Artist mehr Beachtung und Anerkennung bekommt. Dies glaubt er bei Sarrasani zu erhalten, auch Frankreich verspricht ihm mehr zu bieten, als die kleinen Orte, die er mit Caribaldis Zirkus besucht. Sarrasanis Angebot ist für den Jongleur ein Hoffnungsschimmer, eine scheinbare Möglichkeit, jederzeit wegzugehen.

Was alles anders
in Frankreich
Herr Caribaldi
Das Unmöglichste
eine Wohltat
Wie Sie wissen
liebe ich es ausserordentlich
an der Atlantikküste
frische Muscheln zu essen
in weissem Bordeaux (265)

Er sehnt sich nach einem anderen Leben, das er mit Caribaldis Zirkus nicht erreichen kann. Indem er sich selbst immer wieder vergewissert, dass es eine Möglichkeit gäbe dieser „Macht der Gewohnheit“ zu entrinnen, wird er aber am Leben gehalten.

Thomas Bernhard: Die Macht der Gewohnheit. In: Stücke 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1988. S.251-349. (1974)

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